Die Welt vom 13.10.14

 

Was ist Deutschland sein Leistungssport wert?

 

Der internationale Konkurrenzkampf im Spitzensport wird immer härter, deutsche Leistungssportler drohen durch ineffektive Strukturen ins Hintertreffen zu geraten. Was ist dagegen jetzt zu tun? Von Jens Hungermann <http://www.welt.de/autor/jens-hungermann/>

 "Welchen Spitzensport wollen wir? Vor dieser Frage werden sich die Politik, der organisierte Sport und die Gesellschaft nicht drücken

können." Mit diesen Schlussworten beendete die Vorsitzende im Sportausschuss, Dagmar Freitag (SPD), am späten Montagnachmittag eine gut dreistündige öffentliche Anhörung im Bundestag. "Neue Strukturen für die Spitzensportförderung" lautete das Zukunftsthema – es war eines, das ohne Fragezeichen formuliert war. Fast kommt es einer Aufforderung gleich.

Die vergangenen beiden Auflagen der Olympischen Spiele – London 2012 im Sommer und Sotschi 2014 im Winter – haben der sportverliebten Nation nicht nur vor Augen geführt, dass die Wettbewerbsdichte auf internationalem Niveau in vielen Sportarten immer höher wird. Sondern auch, dass deutsche Leistungssportler in diesem Wettbewerb zunehmend ins

Hintertreffen geraten. Ein Blick auf das plakativste Messinstrument – den olympischen Medaillenspiegel – zeigt: Bei Winterspielen gab es zuletzt 43 Prozent, bei Sommerspielen 66 Prozent weniger Medaillen als vor 26 Jahren.

Die Diskussion über neue Sportförderstrukturen im Lande ist nicht neu, doch scheint sie drängender denn je. "Der Rückgang olympischer und paralympischer Medaillen seit 1988 bis heute stellt einen klaren Negativtrend dar. Ursachen können nur systemischer Natur sein, nicht zufällig", meint Joachim Mester, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Forschungszentrums für Leistungssport Köln.

Mesters Urteil zum Status quo ist verheerend: "Von einem 'Leistungssportstandort Deutschland' kann kaum noch gesprochen werden." Der Sportwissenschaftler moniert u.a. mangelnden Wettbewerb im Betreuungssystem, eine an Zuständigkeiten statt an Kompetenzen ausgerichtete Förderung auf Bundesebene und unzureichende Einbindung wissenschaftlicher Einrichtungen.

Arndt Pfützner, Direktor am Leipziger Institut für Angewandte Trainingswissenschaft, fordert eine Professionalisierung und

Systematisierung des deutschen Leistungssports. Er meint: "Deutschland braucht eine Leistungssportstrategie" – womit klar wird: Bislang hapert es daran offenbar.

    Wer führt eigentlich den deutschen Leistungssport?

 "Wir brauchen ein klares, nationales, von der Politik getragenes Ziel", sagt auch Christoph Niessen, Vorstandsvorsitzender im Landessportbund Nordrhein-Westfalen (LSB). Sind der Maßstab zur Beurteilung deutscher Spitzensportresultate nun möglichst viele Medaillen? Oder sind sie es eben nicht? "Es gibt keinen breiten Konsens darüber – auch weil es keine breite Diskussion darüber gibt", kritisiert Niessen. Niessen stichelt: "Man weiß gar nicht so genau, wer den deutschen Leistungssport eigentlich führt." Der Dachverband Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB)? Oder doch die Politik in Gestalt der Abteilung Sport im Bundesinnenministerium?

Bei aller Berechtigung des föderalen Sportsystems der Bundesrepublik neigt die Steuerung des Spitzensports zum Zerfasern, Zersplittern, zum Kleinklein – und damit zu Ineffektivität und Reibungsverlusten. Der für gewöhnlich nicht eben behände (re)agierende DOSB weiß um das Problem, hat bereits verschiedene Konzepte aufgelegt, doch trauen Fachleute dem Dachverband in seiner aktuellen Konstellation offenkundig einen großen Wurf nicht zu. Die sich abzeichnende Strukturreform des DOSB mit einem hauptamtlichen Management unter Kontrolle eines ehrenamtlichen Aufsichtsrats scheint angesichts der Herausforderungen überfällig.

Nicht nur Niessen ist ein eindeutiger Befürworter der Reform: "Wenn ich Erfolg haben will im Spitzensport, muss ich unternehmerisch arbeiten", dozierte der LSB-Mann Montag im Sportausschuss, "denn Sport ist ein Produkt wie andere Hochtechnologieprodukte auch." Dabei gehe es nicht "um die Diskreditierung von Ehrenamt. Sondern es geht darum, dass ein Produkt im globalen Wettbewerb zu maximalem Erfolg geführt werden soll. Das muss aus meiner Sicht ein hauptberufliches Management leisten, auf Basis von konkreten Zielvorgaben". Eine Diskussion über neue Strukturen in der Spitzensportförderung sei jedoch "nur dann zielführend, wenn die notwendigen Mittel für einzelne erkannte Korrekturen und Notwendigkeiten bereitgestellt werden", merkt der DOSB-Athletensprecher Christian Breuer zu Recht an.

 Diskussion um die Verteilung der Förderung

 

Tatsächlich ist es ja die Gretchenfrage: Was ist Deutschland sein Leistungssport wert? Gut 130 Millionen Euro beträgt die jährliche Förderung durch das Bundesinnenministerium. Ginge es nach den unter zunehmend höheren Anforderungen ächzenden Sportfachverbänden oder den vom Bund alimentierten wissenschaftlichen Einrichtungen wie IAT und FES (Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten), dürfte es gern deutlich mehr sein.

In der haushaltspolitischen Realität jedoch sollen viele Verbände mit gleichen (oder gar schrumpfenden) Etats bei wachsender Anzahl internationaler Wettkämpfe möglichst herausragende Erfolge in Serie feiern. Eine Rechnung, die schwerlich aufgehen kann. "Eines muss uns klar sein: Wenn wir keinen Mittelaufwuchs bekommen, darf dieser Prozess nicht auf Kosten der erfolgreichen Sportarten gehen", barmte der Alpindirektor im Deutschen Skiverband, Wolfgang Maier, im Sportausschuss. Der DOSB-Leistungssportdirektor Bernhard Schwank hingegen kündigte an: "Wir werden im Wintersport möglicherweise harte Entscheidungen treffen müssen."

Mit erkennbarem Verve hat sich DOSB-Präsident Alfons Hörmann in den ersten zehn Monaten seiner Amtszeit daran gemacht, Reformpotenzial auszuloten. Den deutschen Leistungssport sieht er "am Scheideweg": "Marginale Korrekturen würden lediglich zu einem 'Weiter so' führen. Sowohl im Sommer wie im Winter verlieren wir tendenziell an Bedeutung", warnte Hörmann im Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Eine Konzentration auf einige wenige, maximalen Erfolg versprechende Sportarten lehnt er indes ab.

 Leistungssport als Wagnis

Ohnehin müsse sich ein Weltmeister in spe – und sein familiäres Umfeld – heute mehr denn je fragen, ob er das Wagnis Leistungssportkarriere überhaupt eingehen möchte. Die Unsicherheit, ob diese Karriere Erfolg zeitigt, liegt im Wesen des körperliche Ressourcen fressenden Spitzensports begründet; die Unsicherheit, ob eine solche Sportkarriere wirtschaftlich zu verkraften ist, im System.

Gäbe es die Deutsche Sporthilfe nicht, wer weiß, wie viele Sportkarrieren hierzulande vorzeitig beendet gewesen wären. Montag zeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel die Stiftung für deren Initiative "Sprungbrett Zukunft" aus. Am selben Tag wurde die neue Internetplattform "Praktikantenbörse" gestartet, auf der sich Sporthilfe-geförderte Athletinnen und Athleten vor allem mittelständischen Unternehmen als Mitarbeiter auf Zeit vorstellen können.

"91 Prozent der A-Kader-Athleten fühlen sich nicht ausreichend auf das Leben nach dem Sport vorbereitet, ergab eine Studie der Deutschen Sporthilfe aus dem Jahr 2013", sagt Vorstandschef Michael Ilgner. Es sind diese jungen Sportler, die Deutschland im Trainingsanzug bei internationalen Sportgroßereignissen vertreten. Ihnen das Gefühl zu geben, dass die Förderstrukturen effektiv und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind – auch darum muss es bei allem mehr oder minder vorhandenen Reformeifer in Politik und Sportführung gehen.

 

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